Angelika Schmitz – Erinnerungen an 1991

Der schlimmste nächtliche Alptraum kann sich manchmal mit erlebter Wirklichkeit nicht messen! Diagnose Hirntumor bei meinem vierjährigen Sohn Feliciano!

Nach drei Tagen im heimischen Krankenhaus und der Aussage: „Wir können ihm hier nicht helfen, er muss in eine Uni-Klinik“ Fahrt mit dem kranken Kind zur Uniklinik Köln mit einem Krankentransport. Meine Eltern fahren im eigenen Wagen hinterher. Tausend Gedanken , die einem ungefiltert durch den Kopf gehen – immer mit Blick auf den vom vielen Erbrechen geschwächten Körper des Kindes . „Das kann ich doch nicht ertragen“ – noch nicht ahnend, was Menschen alles ertragen können! Vorstellungen von klinisch sterilen Arztzimmern, weißen Kitteln, glänzenden OP – Bestecken, langen, leeren Fluren mit kleinen Zimmern, in denen kranke Kinder aus den Betten schauen – welche Illusionen, obwohl die doch schon eher einem Horrorszenario gleichen.

Ankunft vor dem Klinikgebäude – grauer Kasten der Vorkriegszeit, vor dem Eingang Trauben von hastig an Zigaretten ziehenden Frauen mit schlaflosen Blicken. Fahrt mit einem altersschwachen Lift vor eine geschlossene Stationstür. Es wird geklingelt. Die Tür öffnet sich …Eintritt in eine Welt, die nichts mit irgendeinem Erlebnis meines Lebens zu vergleichen ist:

Erster Blick fällt auf eine winzige Spielecke mit Resten von Spielzeug, in der sich lautstark fremde Wesen tummeln- kahlköpfige ausgemergelte Gestalten mit blauen Lippen. “Was haben die mit meinem Feli zu tun?“ Ich höre meine Eltern hinter mir tief durchatmen. „Gibt es kein Entkommen aus diesem Vorhof der Hölle?“ Wir werden freundlich angewiesen zu warten und setzen uns in eine Ecke neben der Tür. Ein Junge humpelt zu seinen Leidensgenossen mit verdrehtem Fuß angenäht an seinem Knie, ein weiterer schiebt ein Infusionsgerät vor eine schmale Toilettentür und bemüht sich das Gestell so zu kippen, dass er eintreten kann. Aus einem Zimmer stürzt eine Frau in Grün mit grünem Mundschutz in der Hand eine Schale mit Erbrochenem und schreit nach einer Schwester. Innerhalb kurzer Zeit erscheinen weitere Familien zur Einweisung, die mit uns erstarrt auf den kleinen Stühlen warten. Erste Gesprächsfetzen „Was fehlt ihrem Kind?“. Leukämie … Neuroblastom … Diagnosen, wie sie schlimmer nicht sein könnten.

Irgendwann – viel später – Einweisung auf die Zimmer. Welch ein Unterschied zu den Gedanken im Krankenwagen! Vier Betten verteilen sich auf wenige Quadratmeter. Blutige Tupfer liegen auf einem kleinen Nachttisch. In einem Bett liegt ein Kind fast totengleich und schläft, in der anderen Ecke läuft lautstark ein Fernseher mit der neuesten Turtle – Sendung. Um die Füße kreist ein ferngesteuertes Auto. Um das vierte Bett schart sich eine türkische Großfamilie und scherzt mit den kleinen Patienten. Wie kann man hier lachen?

Stunden später – mit dem Wissen, dass dies nun die Bleibe für viele Wochen sein wird, Aufbruch zu den Zimmern, die im Schwesternheim für die Eltern reserviert sind. Auf dem Weg durch das Klinikgelände erste Worte mit einer weiteren betroffenen Mutter, mit der man sich die 8 Quadratmeter teilen wird, denn alles ist überbelegt. Wie kann man in der Situation mit einem wildfremden Menschen so dicht beieinander wohnen? Wo soll ich weinen? Nachdenken? Vor mich hinstarren – wenn mir danach ist?

In der ersten Nacht bleiben wir zunächst in Klappbetten auf der Station – von den netten Schwestern geduldet, denn eigentlich bleibt ja auch kein Zentimeter für die Nachtschwestern. So wird dies für Monate zum eigentlichen Lebensraum … langsam entsteht so etwas wie Alltag – völlig abgeschottet von der übrigen Welt. Jeder Gang nach „draußen“ ein Schock … schnell wieder eintauchen in die Welt der Station.

Was passiert mit dem Kind? Nur, wenn Besuch auftaucht, wird einem noch mal klar, wo man sich befindet. „Das kann doch keine deutsche Krankenstation sein – so habe ich mir eine Station in Russland vorgestellt!“ Zwischen Schocks und wieder Abtauchen ins Stationsleben entsteht so etwas wie Normalität. Es wird gelacht – mit Ärzten, Schwestern, Müttern und den Kindern sowieso. Sie sind soo tapfer- eigentlich sind sie es, die uns den Alltag erst möglich machen. Ich habe noch nie so starke Menschen gesehen – wie die Kinder auf der Onkologie.

Und gerade deshalb fragt man sich in ruhigen Minuten: Wie kann es sein, dass es solche Bedingungen gibt und das in einem der reichsten Länder der Erde? Sind diese Stationen vergessen, diese Kinder und Eltern? Gibt es keine Organisationen, Vereine, Spendengeber? Ist es einfacher die Augen zu verschließen? Wenn ich heute…

Angelika Schmitz