Ich wäre nicht der, der ich heute bin…

Es ist aus heutiger Sicht zum Glück sehr lange her und die expliziten Erinnerungen an die Zeit verblassen, aber ich bin mir bewusst, dass ich ohne meine Erkrankung nicht der wäre, der ich heute bin und dass ich sicherlich nicht so leben würde, wie ich heute lebe.

1999 ist etwas in mein Leben getreten, auf das ich keinen Einfluss hatte, das ich damals mit zwölf Jahren auch nicht richtig verstanden habe. Mir war nicht klar, was es bedeutet Krebs zu haben und warum meine Eltern deshalb weinen. Ich hatte keine Ahnung davon was mich erwartet und konnte schon gar nicht erahnen was es für mein weiteres Leben bedeutet. Ich hatte nie Angst davor zu versterben, auch wenn ich natürlich mitbekommen habe, wie es manchen anderen Kindern immer schlechter ging und sie irgendwann auch verstorben sind.

Komischerweise kam damals diese Angst nie. Auch als ich älter wurde und trotz drei Rezidiven habe ich nicht oft daran gedacht an der Erkrankung zu sterben, die Zukunft nicht mehr zu erleben. Diese Sorgen kamen erst später, jetzt als Erwachsener. Als Kind und Jugendlicher haderte ich viel mehr damit nicht normal zu sein, nicht zur Schule, nicht ins Schwimmbad, zur Geburtstagsfeier gehen zu können, nicht am USA-Austausch teilnehmen zu können.

Meine Facharbeit durfte ich vorzeitig abgeben weil ein Rezidiv dazwischen kam, mein Abi habe ich daheim am Küchentisch geschrieben mit einem Lehrer als Aufsicht nur für mich weil ich mal wieder ein Rezidiv hatte und zum Abi-Streich meines Jahrganges kam ich zu spät, weil ich am selben Tag erst nach der Resektion meiner Lungenmetastasen aus dem Krankenhaus entlassen worden war und das auch nur weil ich Druck gemacht habe endlich gehen zu dürfen. Meine Eltern fuhren mich ohne Umwege direkt aus der Klinik in die Schule. Damit ich an meiner Abi-Zeugnisverleihung und Feier teilnehmen konnte wurde die nächste Chemo um einige Tage verschoben. Die Abi-Fahrt fand jedoch ohne mich statt. Wenn ich heute zurück denke war das für mich Schlimme nicht die Therapie mit allen ihren Nebenwirkungen, sondern dass ich so viel normales Leben verpasst habe.

2007 habe ich dann begonnen Medizin zu studieren. Vorlesungen hatte ich schon bald teils bei den Leuten, die zuvor meine behandelnden Ärzte gewesen waren. Heute arbeite ich als Arzt an dem Klinikum, an dem alle meine größeren Operationen erfolgt sind und das zu derselben Universität gehört wie auch die Kinderklinik, in der ich zwischen meinem 13. und 20. Lebensjahr so viel Zeit verbracht habe. Wäre ich 1999 nicht an Krebs erkrankt, hätte ich sicher nie meinen heutigen Arbeitgeber gewählt. Ich kann noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob ich überhaupt Medizin studiert hätte. Ich bin mir jedoch sehr sicher, dass ich ohne die Erfahrungen, die ich gemacht habe, ein anderer Arzt wäre als der, der ich heute bin.

Ich denke ich verstehe sehr gut die Ängste und Sorgen meiner Patienten, vieles davon habe ich ja selbst ausprobiert. Gleichzeitig habe ich aber auch für einiges weniger Verständnis: Wenn Patienten jammern, weil sie zu lange warten müssen oder ihnen eine kleine Narbe bleibt. Das sind Situationen, in denen es mir schwer fällt geduldig zu bleiben und ich muss mich selbst daran erinnern, dass diese Patienten einfach nicht dieselben Erfahrungen gemacht haben wie ich und Dinge anders bewerten als ich.

2015, nach 9 Jahren Pause und in meinem ersten Jahr als Assistenzarzt erkrankte ich an einem Zungenkarzinom. Wieder habe ich mich in „meiner“ Klinik behandeln lassen. Zum Glück brauchte es dieses Mal nicht mehr als eine Operation. Körperlich ist von der letzten Erkrankung auch nicht viel geblieben: ein fehlendes Eck Zunge und eine lange Narbe am Hals. Geblieben ist aber eine deutliche Angst vor einer weiteren Krebserkrankung. Vor allem, dass es sich bei dem Zungenkarzinom nicht einfach um ein Rezidiv meiner alten Erkrankung, sondern um eine komplett neue, nach derzeitigem Stand der Wissenschaft von meiner ursprünglichen Erkrankung unabhängige Krebserkrankung handelt, hat mich sehr verunsichert. Ich weiß nicht, ob diese Angst jemals besser wird, aber ich achte jetzt noch besser auf Veränderungen an meinem Körper.

Informationen zum Autor:

Zu mir: 1986 geboren 06/99 an Ewing Sarkom im Bereich der linken Hüfte erkrankt. Initial behandelt nach EICESS Protokoll mit 4 Zyklen Induktionschemotherapie, lokaler Resektion und weiteren 10 Zyklen Chemotherapie. Erstes Rezidiv 12/01 behandelt mit erneuter lokaler Resektion, Chemotherapie und lokaler Strahlentherapie. 11/02 Lungenmetastase links. Es erfolgte eine erneute Chemotherapie sowie eine Ganzlungenbestrahlung. 03/06 mehrere Lungenmetastasen, wieder links. Es erfolgte erneut Chemotherapie und die operative Entfernung der Metastasen. Zusätzlich erfolgte eine zweimalige Hochdosis-Therapie jeweils mit autologer Stammzelltransplantation. 2006 habe ich zudem mein Abitur gemacht und im Herbst 2007 dann mein Medizinstudium begonnen. Nach meinem Examen habe ich im Herbst 2014 als Assistenzarzt in der Anästhesie begonnen. Im Frühjahr 2015 erkrankte ich an einem Zungenkarzinom, welches mittels lokaler Resektion sowie der Resektion von Lymphknoten derselben Seite im Bereich des Halses behandelt wurde.
Im Herbst 2015 wurde ich Vater.