„Auch eine blöde Krebsdiagnose kann etwas Schönes hervorbringen…“

Melek und Ahmet heirateten in 2019, im Oktober 2021 folgte ihr erstes Kind. Aber das Paar schaut nicht nur gemeinsam in die Zukunft, sie haben auch ähnliche Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht. Denn beide waren Teenager, als ihre Geschwister an Krebs erkrankten.

Bei der Segelfreizeit für ehemalige Patienten und Geschwister des Fördervereins lernten sie sich 2013 kennen. Im Jahr drauf wurden sie ein Paar und sind seitdem glücklich zusammen.

In einem Interview erzählt Melek ihre Geschichte.

Welche Veränderungen gab es in deiner Familie aufgrund der Erkrankung?

Die Prognose war anfangs sehr schlecht. Meine Schwester war bei Therapiebeginn erst 21 Monate alt, sodass meine Mutter dauerhaft im Krankenhaus war. Meine älteste Schwester übernahm das Regime. In der Pubertät fand ich es natürlich nicht so gut, auf sie hören zu müssen. Wir hatten das Glück, dass unser Vater über 2 Jahre lang von zu Hause aus arbeiten konnte und für uns weitere 5 Geschwister da war.

Wie bist Du mit der Erkrankung deiner kleinen Schwester umgegangen?

Für mich war die Erkrankung ein absolutes Tabuthema. Ich sprach mit niemandem darüber.

Die Schulpsychologin war aufgrund schulischer Schwierigkeiten über die besondere Familiensituation informiert. Gesprächsangebote von ihr oder von Lehrern interessierten mich aber nicht. Ich habe auch in der Zeit häufig die Schule geschwänzt.

Ich bin regelmäßig zum Krankenhaus gefahren, um meine Mutter zu sehen. Wir trafen uns vor dem Gebäude, aber ich ging nicht zur Station hinauf. Für mich war das ein Schutzmechanismus, nicht zu intensiv in Kontakt mit meiner erkrankten Schwester zu treten.

Im Nachhinein bewerte ich mein Verhalten zu dieser Zeit als sehr egoistisch. Denn alle zusätzlichen Pflichten, die ich innerhalb der Familie übernehmen sollte, habe ich als Teenager erst mal abgewehrt (*schmunzelt). In mir spürte ich: „Ich möchte nicht helfen, wenn sowieso niemand für mich da ist.“

Wie reagierten deine Eltern auf dein Verhalten?

Meine Mutter suchte das Gespräch mit der Schulpsychologin, um die Erklärung zu liefern, warum mein Verhalten und meine Leistung voraussichtlich in den nächsten Monaten beeinträchtigt wären. Sie zeigte sehr viel Verständnis für meine Abkapselung und gab mir den notwendigen Freiraum.

Wie sah die familiäre Situation bei deinem Mann Ahmet aus?

Er hatte komplett andere Voraussetzungen. Sie sind zwei Geschwister und seine Schwester erkrankte an einem Ewing Sarkom (Knochenkrebs). Immer wieder mussten beide Eltern mit ihr nach Münster zu einem Spezialisten. Auch wenn Ahmet von der erweiterten Familie im gleichen Haus betreut wurde, fühlte er sich oft allein gelassen. Er reagierte ebenfalls mit einer starken Ablehnung des Schulalltags, sodass er aufgrund seiner Fehltage sogar eine Klasse wiederholen musste.

Das Elternhaus bietet ja jedes Jahr eine Nachsorgefreizeit für Jugendliche an, an der du auch teilgenommen hast. Kannst du ein bisschen von deinen Erfahrungen während der Segelfreizeit erzählen?

Von der ersten Minute an fühlte es sich familiär und super angenehm an. Hier trifft man auf Gleichgesinnte. Das ähnliche Erleben schwebt als großer Berührungspunkt im Hintergrund mit. Deshalb sind auch Altersunterschiede innerhalb der Gruppe überhaupt kein Thema. Man spürt sofort eine Bindung; so ergibt sich auch kein Streit untereinander.

Die Krebserkrankung ist auf dem Segelschiff kein Tabuthema – aber eigentlich wird gar nicht so viel über die Erkrankung oder die familiäre Situation geredet. Viele der Gefühle werden einfach ohne Worte verstanden. Erst am zweiten oder dritten Tag haben wir uns zum Beispiel darüber unterhalten, wer überhaupt Patient war und wer als Geschwister mitfährt… denn nicht immer ist die überstandene Erkrankung von außen zu erkennen.

Ganz besonders bleibt mir eine Anekdote von einem Mitsegler, einem ehemaligen Hirntumor-Patienten, in Erinnerung: Mit viel Humor sprach er uns einmal auf dem Schiff an: „Es tut mir ja leid, aber ich muss gerade mal meine ‚Krebskarte‘ ausspielen. Diese Arbeit kann ich tatsächlich nicht machen.“ … und mit ganzem Herzen haben wir seinen Arbeitspart übernommen!

Auf dem Segelschiff hast du also deinen Mann Ahmet kennengelernt …

Er war 15 und ich bereits 16 Jahre alt. Wir haben uns intensiv ausgetauscht und bereits während der Freizeit schmunzelte man, dass Ahmet „mich mit großen Augen ansah“. Das stand für mich natürlich außer Frage – er war schließlich jünger als ich (*lacht).

Wir hielten Kontakt und ich wurde im Laufe der Zeit für Ahmet eine wichtige Bezugsperson. Wir konnten uns gegenseitig auffangen.

Welche Bedeutung hat die Segelfreizeit für dich?

Die Segelfreizeit war mein allererster Kontakt mit dem Elternhaus und anderen betroffenen Jugendlichen. Ab dem Zeitpunkt hat sich für mich vieles geändert. Ich konnte mich über die Krebserkrankung meiner Schwester frei unterhalten und fühlte mich nicht mehr allein.

So ungewöhnlich es sich für einen jungen Menschen anhört – ich habe gelernt, auch den Tod zu akzeptieren. Und lernte einen natürlichen Umgang mit dem Schicksal.

Wie geht es deiner Familie heute?

Meine kleine Schwester ist nun eine quirlige 12-jährige mit wahnsinnig viel Charme. Die Zeit ihrer Behandlung hat uns alle nachhaltig berührt. Einer meiner Schwestern ist Ärztin geworden, ich arbeite im sozialen Bereich – vor meinem Studium absolvierte ich ein 6-wöchiges Praktikum im Elternhaus!

Nach Therapieende begleitete ich meine Eltern regelmäßig zu den Elterntreffs im Elternhaus, bei denen sich betroffene Eltern in geselliger Runde austauschen. Der Austausch mit anderen Familien tut einfach gut.

Und was bedeutet es für eure Partnerschaft, dass ihr euch in einer so schwierigen Lebenssituation kennengelernt habt?

Wir fühlen uns miteinander einfach sehr positiv.