Vom drüber Reden stirbt man nicht

Vom stärkenden Umgang mit der Wahrheit – Interview mit einer ehemaligen Patientin

Der weltweit bedeutendste Neuroblastom-Kongress fand im Mai 2014 zum ersten Mal in Deutschland statt. Die führenden Experten aus Wissenschaft und Medizin trafen sich in Köln, um sich auszutauschen und über neue Forschungsergebnisse zu informieren. Im Rahmen des Kongresses fand von der Kinderkrebsstiftung ein Neuroblastom-Tag für Patienten und Angehörige statt. Hier gab Jessica Hirsch, eine Langzeitüberlebende, in einem Interview mit der Seelsorgerin Mechthild Ritter einen Einblick in ihre Krankengeschichte.

Jessica erkrankte mit zwei Jahren und wurde, als sie 8 Jahre alt war, in Frankfurt als unheilbar entlassen. Ihre Mutter wollte mit ihr zur Klinik nach Köln, sie aber wollte zuhause bleiben.

Frau Ritter: Dass Sie mit Ihren 8 Jahren – aus der Frankfurter Klinik als unheilbar zum Sterben entlassen – keine Lust hatten, nach Köln zu fahren, wissen sie noch sehr genau.

Jessica: Ja, ich weinte und wollte nicht von zuhause weg. Meine Mutter nahm mich in den Arm, schaute mich an und sagte: „Wir müssen nicht nach Köln fahren, es ist deine Entscheidung. Entweder wir bleiben hier und Du stirbst, oder wir fahren nach Köln und dann wirst Du vielleicht gesund.

Frau Ritter: Ihre Mutter hat Sie in die Entscheidung einbezogen, offen gesagt, was Sache ist. Sie hat nichts gegen Ihren Willen entschieden und Ihnen nie etwas vorgemacht oder versprochen, was nicht einhaltbar war?

Jessica: Genau. Ich habe nie um Versprechungen gekämpft, sondern um mein Leben.

Frau Ritter: Und die schonungslos offene Art Ihrer Mutter hat Ihnen nie Angst gemacht?

Jessica: Nein, im Gegenteil. Wir haben auch zusammen geweint. Sie hat mir ihre Angst gezeigt und dann wusste ich, dass es in Ordnung ist, Angst zu haben.

Frau Ritter: Sie haben zwar einen Großteil ihrer Kindheit mit der Krankheit verbracht, aber Sie fühlen sich nicht als Opfer?

Jessica: Die Klinik war das soziale Umfeld, das war mein Leben – ein anderes hatte/kannte ich ja nicht. Und ich habe gelernt: wenn andere schockiert waren/sind über meine Krankheit, dann ist das deren Problem. Ich habe meinen größten Kampf gewonnen und daraus bis heute immer wieder viel Kraft gezogen.

Frau Ritter: Warum haben Sie überlebt?

Jessica: Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil meine Zeit noch nicht abgelaufen war, weil meine Mutter nicht aufgegeben hat, einen starken Willen hatte. Bestimmt, weil ich ganz viel Glück hatte … Ich glaube nicht, dass es vom Kämpfen abhängt oder vom Leben wollen. Das wollen alle. Dann hätten die, die sterben, etwas falsch gemacht. Das kann es nicht sein.

Jessica ist hat die Krankheit hinter sich gelassen. Sie ist durch diese Kindheit selbstbewusst geworden und sie weiß das Leben zu schätzen. Köln ist ein Ort ihres persönlichen Glücks – hier ist sie gesund geworden, hat ihre beste Freundin und eine „zweite Familie“ gefunden und auch ihren Mann hat sie hier kennengelernt. Seit einem Jahr ist sie verheiratet.

All das meint sie wäre nie passiert, wenn sie sich damals dafür entschieden hätte, zuhause zu bleiben …